esthétique

Vielfalt, Schönheit und Respekt - Das Duisburger Modelabel begeistert. Hier werden Menschen mit Behinderung zu DesignerInnen, SchneiderInnen und Models.

TEXT Lara Grobosch & Felicitas Speis

Das Modelabel esthétique der Duisburger Werkstatt für Menschen mit Behinderung (WfbM) ist zum Erfolgsmodell geworden. Mit nur zwei MitarbeiterInnen hat die Schneiderwerkstatt im Stadtteil Großenbaum 2015 angefangen, inzwischen arbeiten hier 18 fleißige SchneiderInnen.

Alles begann mit einem visionären Entschluss: „Wir gründen ein Modelabel – und damit die Schneiderei immer etwas zu tun hat, am besten ein erfolgreiches“, erinnert sich Projektleiterin Jutta Lütke-Vestert. Oft wurden in der Schneiderei der WfbM-Zukunftswerkstatt Sepos Kissenbezüge hergestellt. An Mode hatten sie sich bis dato noch nicht herangetraut. Doch Jutta Lütke Vestert und ihre Kollegin Kerstin Lindner, Betriebsstellenleiterin von Sepos, waren sich sicher: Ihre MitarbeiterInnen können mehr. „Tagtäglich erleben wir großartige Talente und ergreifende Momente“, berichtet Kerstin Lindner. „Mit esthétique wollen wir zeigen, wie leistungsstark Menschen mit Behinderung sind.“

Von der Herstellung bis zum Vertrieb passiert alles in der Duisburger Werkstatt. Hier schneiden, ketteln, nähen und bügeln MitarbeiterInnen mit psychischer Behinderung die Kollektionsteile in liebevoller Handarbeit. Beim Design arbeitet das Label mit Profis aus der Modebranche zusammen.

Die Zeichnungen der Menschen mit Handicap inspirieren die DesignerInnen. Aus der Frage „Was macht dich glücklich?“ entstanden kleine Motive, die als „esthétique-Muster“ auf die Kleidung gedruckt wurden.

Schönheit ist Vielfalt

Die Kollektionen sind puristisch und zeitlos. Für Damen und Herren bietet esthétique klassische und gleichzeitig legere Mode in schlichtem Schwarzweiß an. Von Tops über T-Shirts bis hin zu Kleidern mit oder ohne Kragen ist für jeden etwas dabei. Die Kollektionen funktionieren sogar generationenübergreifend.

„Wir sprechen sowohl die hippe 60-Jährige als auch die modebewusste 20-Jährige mit unseren Entwürfen an“, schwärmt Lütke-Vestert. „Unsere Mode zeigt, dass Menschen mit Behinderung Ästhetik haben und genauso wie Nicht-Behinderte mit Schönheit in Verbindung gebracht werden können.“

Bio-Qualität und die faire Produktion der Stoffe sind für Projektleiterin Jutta Lütke Vestert selbstverständlich. Bei esthétique werden ausschließlich Materialien verwendet, die mit dem GOTS-Siegel zertifiziert sind. „Wir möchten aber nicht mit erhobenem Zeigefinger vorschreiben, man sollte komplett zu Slow Fashion übergehen“, erklärt sie. Das Label will mit seiner Geschichte, der Qualität und seinem Team überzeugen. „Wer dadurch nachhaltige Mode entdeckt, ist herzlich willkommen, sich darauf einzulassen.“

Das Modelabel selbst ist nicht mit Nachhaltigkeitssiegeln ausgezeichnet. Eine Zertifizierung ist sehr teuer und zeitintensiv. „Für mich ist es wichtig, dass die GOTS-Bedingungen von den Stofflieferanten erfüllt werden. Für die öko-faire Verarbeitung in Deutschland kann ich persönlich garantieren.“

Mode mit Optimismus

Einmal im Jahr findet das Fotoshooting statt, um die neue Kollektion darzustellen. Die Models für das Shooting sind immer schnell gefunden. „Unsere Modelsuche war eine der beliebtesten Ausschreibungen überhaupt“, freut sich Jutta Lütke-Vestert. Inzwischen gibt es lange Wartelisten.

Die Fotos im Lookbook versprühen Lebensfreude. MitarbeiterInnen des WfbM präsentieren die Mode selbstbewusst und authentisch. Models mit und ohne Behinderung posieren gemeinsam. Sie sind mit viel Leidenschaft dabei. Das begeistert auch Branchenexperten. Normale Models können immer 80 Prozent geben, die richtig Guten auch 100 Prozent, aber unsere Models geben immer120 Prozent – selbst wenn man nicht hinguckt“, berichtet die Projektleiterin stolz. „Wir werden im nächsten Jahr farbige Statements setzen. Aktuell trainieren wir V-Ausschnitte und weitere schöne Designs folgen.“

Die Kollektionen gibt es in ganz Deutschland

Mit dem großen Erfolg des Labels hat am Anfang niemand gerechnet: „Das ist immer noch verrückt für uns, weil wir hier in Duisburg ja weder Modemetropole noch Weltstadt sind“, erzählt Kerstin Lindner. „Mit esthétique sind wir aber auf einem gutem Weg dahin“, fügt Kollegin Jutta Lütke-Vestert lachend hinzu.

Mittlerweile gibt es die esthétique-Kollektionen in mehreren Stores in ganz Deutschland, vor allem im eigenen AV Concept Store in Duisburg. „Am Anfang habe ich einmal gesagt, wir produzieren jetzt für Berlin, da wurde es ganz ruhig in der Schneiderei“, erinnert sich Jutta Lütke-Vestert. „Ob wir das alles schaffen können?“

Diese Sorgen sind längst verflogen. Die Mode hilft, die Behinderung zu akzeptieren und sich auf seine Stärken zu konzentrieren. Die Menschen haben etwas, womit sie sich identifizieren können. „Viele haben sich früher gar nicht getraut, in die Öffentlichkeit zu gehen, weil nicht bekannt war, dass sie eine Behinderung haben“, erzählt Kerstin Lindner.

„Heute sind sie stolz auf das, was sie täglich tun. Sie freuen sich morgens aufzustehen und zur Arbeit zu kommen.“ Eine drastische Wandlung: Das Selbstbewusstsein ist enorm gestiegen, die Ambitionen sind groß: „Jetzt wollen die Jungs und Mädels nach New York.“

Stand 2018

Fotos: esthétique, WfbM Duisburg