TEXT Nadja Unterberger
Die Macht der Tracht: Weil traditionelle Handwerkskunst immer mehr Wertschätzung erfährt, können sich kleine Familienbetriebe trotz Massenindustrie behaupten.
Spätestens in den Sommerferien erhöht sich die Dichte an Trachtenläden schlagartig. Sogar am Münchner Hauptbahnhof gibt es Stände wie sonst nur für Souvenirs, reich an Synthetik-Billigangeboten, von Polyester-Dirndl bis zur Fake-Ledernen. Vor dem Gang zur Wiesn ist der Dirndl- oder Lederhosenkauf obligatorisch. Angebot gibt es ja genug. Allein rund um den Stachus finden sich neun Trachtengeschäfte.
Inzwischen scheint ein Dresscode zu gelten: Bitte, niemand mehr ohne Kompletttracht! Vor allem nicht auf dem Münchner Oktoberfest. Dirndl, in sämtlichen Variationen, das Mieder geschnürt mit Satin-Bändern und Spitzen-Blusen. Und die Herren: Selbstverständlich in der Ledernen, wenn finanziell möglich vom Hirsch, dazu Haferlschuhe, ein blau, grün oder rot kariertes Hemd und Trachtenweste, die mittlerweile als absolutes Must-have zählt. Accessoires sind ebenso vonnöten; so zieren die geflochtenen Haare der Besucherinnen florale Haarbänder und manche Männer tragen Filzhüte mit extravagantem Federgesteck.
Auch auf anderen Events, wie dem Starkbierfest am Nockherberg, sind Dirndl & Co vor allem bei jungen Leuten wieder gefragt. Das Dirndl-Repertoire reicht vom letztens gehypten Cinderella-Stil in Pastellfarben und mit reichlich Glitzer bis zu den heute immer beliebteren hochgeschlossenen Schnitten. Und auch bei den jungen Männern bleibt es nicht mehr nur bei einer Trachtenweste.
Tracht, so scheint es, ist mittlerweile wieder unverzichtbar. Wer keine trägt, kassiert schiefe Blicke. Doch das war nicht immer so: Noch vor ein, zwei Generationen bevorzugten gerade jüngere Besucher der Traditionsveranstaltungen – sei es bei den Waldfesten am Tegernsee oder beim Starkbier-Anstich – Jeans und T-Shirt. Die Tracht wurde beinahe beschämt verleugnet, ganz hinten in den Kleiderschrank gehängt oder gleich auf dem Flohmarkt verkauft. Ganz anders heute, denn derzeit erlebt die Tracht eine regelrechte Renaissance.
40 Stunden für die Hirschlederne
„Tradition wird immer wichtiger“, erklärt Engelbert Aigner, der rund ums Jahr am Liebsten Lederhose trägt. Schon seit knapp 40 Jahren ist er einer der wenigen Säckler, mit eigenem Ladengeschäft, der noch traditionell Lederhosen fertigt. Mit “Säckler” wurden im 8. Jahrhundert noch Leute bezeichnet, die Säcke aus Leder herstellten, seit der Neuzeit steht jedoch die Produktion lederner Beinkleidung im Fokus. Nur noch wenige Menschen beherrschen das Handwerk, darunter Aigner, der in seiner Manufaktur sogar ausbildet. Vor Aufträgen – auch von jungen Kunden – kann er sich kaum retten. Und das, obwohl für Qualitätsarbeit stolze Preise zu zahlen sind: bis zu 3.000 Euro kann eine handgefertigte Lederne kosten. Doch das ist es den Kunden wert, denn schließlich ist es eine Anschaffung fürs Leben, oder zumindest für eine lange Zeit. „Tracht ist etwas, das gelebt wird”, so Aigner, „in unserem schnelllebigen Alltag suchen viele Menschen Halt und genau diesen finden sie im traditionellen Handwerk.“ Zwischen 20 bis 40 Arbeitsstunden steckt der Berchtesgadener in eine echte Hirschlederne samt altüberlieferten Stickereien. Es zeigt sich: Handwerk ist Fleißarbeit mit Hingabe.
Vom Bauerngewand zur Inspirationsquelle
Seit dem 15. Jahrhundert gibt es die Traditionsgewänder bei uns; damals noch von strenger Kleiderordnung reglementiert, denn es war den einfachen Bürgern verboten, bestimmte Materialien, Stücke oder Farben zu tragen. Die Bäuerinnen schneiderten sich ihre eigenen Kleider: regional, zeitlich, konfessionell und ethnisch geprägt. Parallel zur Industrialisierung gründeten sich ab den 1880er Jahren immer mehr Trachtenvereine, die regionale Bräuche und das idyllische, romantische Landleben pflegten, das zu verschwinden drohte. Die Sehnsucht nach der Idylle machte die bayerischen Alpen zum Traumurlaubsziel schlechthin, wo passend zur Naturlandschaft Trachten getragen wurden. Und spätestens seit die ersten Fernsehgeräte zum Verkauf standen, wurden folkloristische Heimatfilme wie „Im weißen Rössl“ von 1960 Schauplatz für Tracht aller Art sowie zur authentischen Inspirationsquelle. Auch noch heute ist sie fest verankert: ein Stück Heimat, das für die Ewigkeit anhält.
Jede Region hat ihre Tracht
Tracht wird heute meist nur noch auf Festivitäten getragen. Sei es an Feiertagen, zu Hochzeitsveranstaltungen oder eben auf der Wiesn. Was im Oktober 1810, anlässlich der Hochzeit König Ludwigs mit Prinzessin Therese von Sachsen-Hildburhausen, mit einem Trachten-Festzug und anschließendem Pferderennen auf einer Wiese vor den Toren Münchens anfing, war schon immer auch eine Hommage ans bayerische Nationalgewand. Acht Kinderpaare erwiesen den Brautleuten ihre Ehre, indem sie Trachten trugen, die die verschiedenen Regionen Bayerns symbolisierten. Seither findet jedes Jahr im Spätsommer auf der „Theresienwiese“ das Oktoberfest statt, wo man die Traditionsgewänder in ihrer jeweils neuesten Form sehen kann.
Zu den aktuellen Wiesn-Trends zählt, Altes wieder aufleben zu lassen. Selbstgemachtes wird ebenso geschätzt wie Vintage. Handarbeit rückt in den Vordergrund: Wer hat nicht ein paar handgestrickte Socken der Oma im Schrank? Pezzo aus Unterammergau setzt auf das klassische Handwerk ebenso wie auf familiäre Produktion: Strickbegeisterte Pensionistinnen fertigen in gemütlicher Runde kuschelige, mit traditionellen Mustern bestickte Trachtenwesten, die an kalten Wiesn-Abenden Wärme schenken. „Ein bewusster und verantwortungsvoller Umgang mit Ressourcen war mir schon immer wichtig“, so Leiterin Petra Zoller über ihr eigenes Label, „zudem freut es mich, dass ich Frauen aus der Region Beschäftigungschancen biete, Transportwege vermeide und Tradition neu interpretiere.“ An alten Trachten inspiriert und mit hübschen Details aufgewertet, verstricken die netten Damen exklusive und natürliche Garne aus Alpaka, Merino oder Schafwolle. Bis eine Trachtenweste in den Versand geht, stecken zwischen 40 und 50 Stunden Arbeitszeit darin. Doch in dieser Zeit entsteht etwas zwischen den Strickerinnen, das in anderen Produktionsprozessen wohl nicht möglich wäre: eine enge Bindung und Freundschaft.
Upcycling Dirndl: Unikate aus ausgedienten Stoffen
Neben dem hohen Zeitaufwand und den hochwertigen Materialien macht echte Tracht vor allem ihre Individualität zum Qualitätsprodukt. So ist es nicht verwunderlich, dass einige Neuheiten entstehen: Upcycling-Dirndl, ganz im Zeichen der Nachhaltigkeit. Gudrun Weber aus Söchtenau gibt ausgemusterten Kleidungsstücken eine neue Bestimmung und fertigt einzigartige Dirndl mit ausgedienten Stoffen. So wird aus dem Nadelstreifensakko des Vaters ein Dirndl-Mieder und aus alten Boyfriend-Jeans ein Rockteil. Als Trachtentrend würde die Gründerin von Lieblingsteil die wieder aufgeblühte Trachtenliebe nicht bezeichnen, denn „ein Trend ist kurzlebig, Tracht ist das nicht“. Sie selbst hält “nichts von einem Dirndl, das dem Farbtrend folgt und nächste Saison aus der Mode ist.“ Ihre Upcycling-Tracht ist zeitlos, klassisch und vor allem hochwertig. Die Anfertigung eines einzigen Dirndls benötigt zwischen 16 und 20 Stunden. „Aus etwas Altem etwas Neues zu machen, ermöglicht es, neue Wege zu gehen“, so Weber, „außerdem ist es heute wichtiger denn je, Ressourcen zu schonen und mit dem zufrieden zu sein, was man hat.“
Dirndl à l’Africaine: exotische Prints, traditionelle Schnitte
Die bayerische Tracht erfreut sich internationaler Beliebtheit, wodurch auch neue Stile entstehen und sie völlig anders interpretiert wird. Ein absoluter Exot in der Branche zeigt ausgefallene und trachtenuntypische Muster. Noh Nee kombiniert kontrastreich: Kleider im Dirndl-Stil aus afrikanischen Stoffen. Die Schwestern Marie Darouiche und Rahmée Wetterich gründeten ihr Label mit einem Ziel: Die Zusammenführung verschiedener Kulturen, die unterschiedlicher nicht sein könnten. Ihr Dirndl à l’Africaine sind mit den aufwendig gewebten Kente-Stoffen, den Wax-Prints und den Stickereien mit Perlen und Muscheln unverwechselbar. „Noh Nee interpretiert Althergebrachtes neu und das alles völlig transparent und fair“, so die Gründerinnen. „Wir lassen die Kleider in einem Ausbildungszentrum für Frauen in Benin fertigen. Dadurch unterstützen wir die regionale Produktion und schaffen neue Perspektiven.“
Regional und international, heimatverbunden und immer wieder neu interpretiert. Tracht kann viel mehr sein als Glitzersatin, Maßkurg-Hut und billig produzierten Folklore-Firlefanz. Aufwendig gefertigte Produkte aus traditionellen Stoffen wie Leder, Filz, Leinen und Strick sowie die zeitaufwändige Produktion machen Tracht wieder zu dem, was sie ursprünglich mal war: Handarbeit mit Wert.
Illustrationen: Anna-Lena Kutzki
Wie schick sich nachhaltige Trachtenmode macht, sieht man auch in unserem Shooting.
Stand 2019